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Asylkrise in den Niederlanden: Ein Land am Rande der Belastbarkeit
| letzte Änderung 21. August 2024 17:09 | Redaktion
UTRECHT · Die Niederlande stehen vor einer immensen Herausforderung: Die Asylkrise spitzt sich immer weiter zu und droht, das ohnehin schon stark belastete System endgültig zu überfordern. Ministerin Marjolein Faber, verantwortlich für Asyl und Migration, sprach jüngst offen von einer "Asylkrise", die das Land in Atem hält, meldete De Telegraaf. Die Aufnahmeeinrichtungen sind überfüllt, die Ressourcen erschöpft, und der Druck auf die Regierung wächst, eine Lösung zu finden, die sowohl humanitär als auch rechtlich vertretbar ist. Der jüngste Fall in Utrecht, wo eine große Einrichtung für ukrainische Flüchtlinge wegen Überlastung geschlossen werden musste, verdeutlicht die Dramatik der Lage. Doch während die Politik nach Wegen sucht, die Krise zu entschärfen, droht ein Konflikt mit der Europäischen Union, der das Land weiter spalten könnte.
Die Asylkrise in den Niederlanden erreicht einen neuen Höhepunkt. Angesichts der steigenden Zahl von Asylsuchenden und deren Familienangehörigen, die in das Land nachreisen, hat Ministerin Marjolein Faber, zuständig für Asyl und Migration, offiziell den Krisenmodus ausgerufen. Die Situation ist prekär: In den Aufnahmeeinrichtungen des Landes gibt es kaum noch Platz, und die humanitären Kapazitäten stoßen an ihre Grenzen.
Ein besonders gravierendes Beispiel für die Überlastung ist in Utrecht zu beobachten. Die dortige Aufnahmestelle für ukrainische Flüchtlinge musste kürzlich ihre Türen schließen, da die Einrichtung weit über ihre Kapazitäten hinaus beansprucht wurde. Ursprünglich als kurzfristige Lösung gedacht, um Menschen für ein oder zwei Tage unterzubringen, führte der stagnierende Durchfluss zu einer dauerhaften Überfüllung. Menschen, darunter Frauen, Kinder und ältere Personen, mussten wochen- oder gar monatelang in der provisorischen Unterkunft verweilen, ohne Aussicht auf eine dauerhafte Lösung. Bürgermeisterin Sharon Dijksma sieht das Problem in den fehlenden Weiterleitungsoptionen und fordert die Regierung auf, schnellstmöglich Lösungen zu präsentieren.
Faber, die vor kurzem für die Budgetverhandlungen im Catshuis, dem offiziellen Regierungssitz, eintraf, sprach in Anlehnung an Berichte der Tageszeitung De Telegraaf von einem bevorstehenden Ansturm von 40.000 Familienangehörigen von Asylsuchenden, die sich im Ausland befinden und auf ihre Weiterreise nach den Niederlanden warten. Im letzten Jahr wurden 90 Prozent der Anträge auf Familienzusammenführung genehmigt, was die Lage zusätzlich verschärft.
Die Ministerin ließ gegenüber De Telegraaf verlauten, dass das Land vor einer gewaltigen Herausforderung stehe. „Alles sitzt bombenfest. Das System ist überlastet, und die Aufnahmefähigkeit des Landes ist erschöpft“, so Faber. Sie kündigte an, härtere Maßnahmen ergreifen zu wollen, um die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren. Allerdings sieht sie sich durch bestehende Gesetze und EU-Vorgaben eingeschränkt. Die Einführung einer Asylkrisengesetzgebung, wie sie im Koalitionsvertrag von PVV, VVD, NSC und BBB vorgesehen ist, könnte eine Lösung bieten, steht aber im Widerspruch zu den Richtlinien der Europäischen Union. Bereits zuvor hatte die EU-Kommission die Niederlande darauf hingewiesen, dass eine solche Gesetzgebung nur unter strengen Voraussetzungen umgesetzt werden kann und dass die Niederlande zunächst nachweisen müssen, dass das nationale Asylsystem trotz umfangreicher Vorbereitungen gescheitert ist.
Die geplante Verschärfung der Asylpolitik, die unter anderem eine Aussetzung von Asylanträgen, verschärfte Grenzkontrollen und die Einschränkung von Sozialleistungen für Asylsuchende vorsieht, könnte juristische und politische Auseinandersetzungen auf europäischer Ebene nach sich ziehen. Ein generelles Verbot der Familienzusammenführung etwa, wie es von einigen politischen Akteuren gefordert wird, wäre rechtlich nicht durchsetzbar, wie das Europäische Gericht für Menschenrechte wiederholt betonte. Auch die geplante Reduzierung der Sozialleistungen für Asylsuchende dürfte vor Gericht angefochten werden.
Neben den politischen und juristischen Herausforderungen steht die Regierung vor einem weiteren Problem: Die öffentliche Stimmung in den Niederlanden ist gespalten. Während ein Teil der Bevölkerung härtere Maßnahmen befürwortet, wächst auch die Kritik an der restriktiven Flüchtlingspolitik. Organisationen und Gemeinden, die mit der direkten Betreuung der Asylsuchenden betraut sind, warnen vor den sozialen und humanitären Folgen der geplanten Maßnahmen.
Ein weiteres Problem ist die drohende Konfrontation mit der EU. Die Europäische Kommission hat bereits mehrfach betont, dass die Niederlande sich an die gemeinschaftlichen Regeln halten müssen. Ein Alleingang könnte zu einem Bruch mit Brüssel führen, was wiederum Sanktionen nach sich ziehen könnte.
Insgesamt bleibt die Lage angespannt. Ministerin Faber hat angekündigt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, doch ob diese ausreichend sind, um die Krise zu bewältigen, bleibt abzuwarten. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die Niederlande einen Weg finden, die Asylkrise zu lösen, ohne dabei in einen offenen Konflikt mit der Europäischen Union zu geraten.
Nachtrag vom 21.08.2024, 17:07 Uhr:
Die jüngsten Entwicklungen in Den Haag werfen neue Fragen zur tatsächlichen Existenz einer Asylkrise in den Niederlanden auf. Ministerin Marjolein Faber, die noch am Morgen selbstbewusst eine Asylkrise ausgerufen hatte, musste ihre Aussage wenige Stunden später relativieren. Sie räumte gegenüber De Telegraaf ein, dass es "rechtlich gesehen" derzeit keine Asylkrise gebe, obwohl dies in der Gesellschaft durchaus so empfunden werde. Diese Unsicherheit hat zu Unbehagen bei ihren Ministerkollegen geführt, die das Thema vorsichtiger angehen. Premierminister Dick Schoof betonte, dass eine formelle Asylkrise erst dann anerkannt werde, wenn die entsprechende gesetzliche Grundlage, die sogenannte Asylkrisengesetzgebung, implementiert sei. Diese wird jedoch frühestens nach dem Prinsjesdag erwartet, wodurch die Regierung noch Zeit benötigt, um eine fundierte juristische Argumentation vorzubereiten.
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Anmerkung der Redaktion:
Das Foto von Marjolein Faber stammt von https://www.rijksoverheid.nl/regering/bewindspersonen/marjolein-faber/foto und unterliegt dem Urheberrecht der Rijksoverheid (niederländische Regierung).
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